(c) Thibault Gregoire
Mit einem schwarzen Kleid bekleidet sitzt die Tänzerin am Boden, im schwarz glänzenden Bühnenboden spiegelt sich ihre Gestalt. Mit durchgebogenem Rücken und zurückgeworfenem Kopf, die Beine leicht angehoben, scheint sie zu schweben, dreht sich langsam und wie von unsichtbarer Hand angetrieben. In dieser Szene des Solos „Lamento“, das die Belgierin Michèle Anne de Mey für die italienische Tänzerin Gabriella Iacono kreiert hat, wird der Schmerz von Verlust und Verlassen-Sein besonders greifbar. Er ist das Grundmotiv, das das Tanzstück über Ariadne durchzieht, jene kretische Königstochter, die Theseus den Weg aus dem Labyrinth wies, sich in ihn verliebte – und schmählich verlassen wurde. Schon Monteverdi war von der Tragik der Geschichte fasziniert und machte daraus (1608) eine Oper; das einzige daraus überlieferte Stück, ein Lamento – die Klage der Ariadne – wurde zum Ausgangspunkt für die choreographische Erkundung eines uralten und zugleich höchst zeitgemäßen Themas.
Gabriella Iacono ist eine kraftvolle und expressive Tänzerin und beeindruckende Interpretin. Bewegungselemente wie ausdrucksvolle, fließende Arm- und Handbewegungen, dynamische Drehungen, Spannung und Entspannung werden bei ihr zu elementaren Äußerungen, eine Sprache, die sich in allen Dimensionen des Raumes entfaltet.
In der ersten Szene ist Iacono nur mit einer schwarzen Stoffhose bekleidet (Kostüme: Zouzou Leyens), in der nächsten, nun ganz nackt, stellt sie mit ihrem Körper die Verletzlichkeit und Verletztheit dar, die der Figur Ariadne durch den Verlust ihres Liebsten Theseus wiederfährt. In ihrer Körpersprache drückt Iacono mit minimalen Bewegungen von Muskeln, Sehnen und Gliedern, aber auch mit ihrem Blick Verzweiflung und ohnmächtiger Schmerz aus; ihr ganzer Körper bebt, bis sie wohl an ihrer Trauer zerbricht, später scheint sie sich innerlich wieder aufzurichten. Dann kniet sie, als vollzöge sie ein Selbstheilungsritual, vor einer Waschschüssel und schöpft mit den Händen bedächtig Wasser, befeuchtet nacheinander Gesicht, Nacken, Körper, und scheint dabei ihren Verlust zu verarbeiten. Aus der Waschschüssel holt sie ein nasses Kleid hervor, das sie auswringt und über ihren nackten Körper streift. Hat sie hier noch neue Kraft geschöpft, so kehrt der Schmerz in der nächsten Szene zurück, in der Sehnsucht, Begehren, Leidenschaft, Leid, Schmach und Hoffnung zum Ausdruck kommen. Es ist keine konkrete Geschichte, die hier gezeigt wird, sondern der emotionale Zustand einer verlassenen, tief verletzten Frau. Und es ist das eingangs geschilderte Bild, das sich am stärksten einprägt; die Tänzerin und ihr Spiegelbild auf der sonst dunklen Bühne, Ariadne, die wie im Traum die Liebe durchlebt, die sie verloren hat. Am Ende ihres Solos tritt Iacono langsam in die Dunkelheit der Bühne zurück, während Monteverdis Lamento d’Arianna erklingt: „Lasciate mit morire“ (Lasst mich sterben).
Johanna Wolter